„Bei Null anfangen!“ Krautrock oder die „Future Sounds“ aus Deutschland

„Bei Null anfangen!“ Krautrock oder die „Future Sounds“ aus Deutschland

Juni 21, 2021 2 Von D. Reviol

Ein Gastbeitrag von D. Reviol

Ihre Musik hat die Welt erobert. Ob im Electro-Pop oder Hip-Hop, in Techno oder Ambient, im Post Rock oder Synthie Pop – die Sound-Spuren von Can, Neu!, Kraftwerk, Tangerine Dream, Cluster und den anderen Krautrock-Bands sind allgegenwärtig. Diesen „Future Sounds“, die seit Ende der 60er in Deutschland entstanden waren, hat Journalist Christoph Dallach eine umfassende Oral History gewidmet. Im Interview gibt er Einblicke in die Geschichte und Motive der legendären Bewegung.

Als „Krauts“ hatten britische Soldaten einst ihre deutschen Feinde im Krieg verspottet. Dass ausgerechnet dieser Ausdruck Jahrzehnte später herhalten musste, um den neuartigen und experimentellen Klängen aus Deutschland einen Genre-Namen zu verpassen, entbehrt nicht einer gewissen Ironie. War es doch gerade die Kriegsgeneration, die die Krautrock-Künstler hinter sich lassen wollten … und waren es doch gerade auch britische Musiker, die sich mit Freude aus dem Kreativschatz der deutschen Bands bedienten.

Doch die Rezeptionsgeschichte des Krautrocks ist ohnehin ähnlich sonderbar wie einige seiner schillerndsten Werke. Das kann auch Journalist und Autor Christoph Dallach bestätigen, dessen mehr als 500 Seiten umfassendes Krautrock-Buch „Future Sounds. Wie ein paar Krautrocker die Popwelt revolutionierten“ kürzlich erschienen ist. Im Interview erzählt Dallach, wie der Krautrock mit Verspätung allmählich auch ins Bewusstsein der Deutschen rückt, wie ein Gewinnspiel sein Interesse an dieser Musik entfachte und was die einzigartigen Musiker des Krautrocks antrieb …

Diese Ära ist der einzige deutsche Beitrag zur Popkultur.

Eine meiner persönlich letzten Konzerterinnerungen vor der Pandemie war Michael Rother auf dem Synästhesie-Festival 2019 in Berlin. Auf dessen Auftritt damals folgte die britische Band Stereolab, deren Neu!-Einflüsse nicht zu überhören sind. Eine Lineup-Entscheidung, die eindrucksvoll die Bedeutung der Krautrock-Künstler für die internationale Musik erahnen lässt. War deutsche Pop-Musik jemals wichtiger als in der Ära, über die Sie in Ihrem Buch „Future Sounds“ schreiben, Herr Dallach?

Genau genommen denke ich: Diese Ära ist der einzige deutsche Beitrag zur Popkultur. Natürlich hatten auch Nena, die Scorpions oder Rammstein internationalen Erfolg. Aber substanzieller war sicherlich der Krautrock, wenn man ihn denn so nennen möchte. Diese Musik hat einfach so viel beeinflusst. Es haben sich weltweit enorm viele Künstler darauf bezogen – etwas, das die Öffentlichkeit in Deutschland selbst kaum wahrnahm. Denken Sie nur an David Bowie, der einer der ersten international bekannten Krautrock-Fans war. Er wollte ja auch, dass Michael Rother auf seinen Alben „Low“ und „Heroes“ Gitarre spielt, was das Management von Bowie dann verhinderte.

Christoph Dallach ist Jahrgang 1964. Er arbeitet als Journalist und Autor und schreibt für DIE ZEIT, das ZEITMagazin, MARE, SPIEGEL-Online und andere Medien.

Sein Buch „Future Sounds. Wie ein paar Krautrocker die Popwelt revolutionierten“ ist am 20.6.2021 im Suhrkamp Verlag als Taschenbuch erschienen.

511 Seiten, 18 Euro, ISBN: 978-3-518-46598-1.

Sie haben die fehlende Aufmerksamkeit im eigenen Land schon angesprochen: Wie kann es denn sein, dass diese Musik im Ausland zum Teil extrem anerkannt ist, in Deutschland aber – Kraftwerk vielleicht ausgenommen – aus dem öffentlichen Bewusstsein fast völlig verschwunden ist?

Da würde ich widersprechen, denn das hat sich schon geändert. Ein gutes Beispiel ist ein kürzlich nachgereichtes Can-Livealbum, „Live in Stuttgart 1975“. Dieses Album ist soeben auf Platz 14 der deutschen Charts eingestiegen. Ich meine nicht die Indie-Charts, sondern die ganz normalen. Klar, daran lässt sich ablesen, dass ein Künstler heute nicht mehr viel verkaufen muss, um in die Charts zu kommen. Dennoch, das Album erhielt wirklich große Beachtung und auch zahlreiche Besprechungen. Can sind in ihrer Bedeutung definitiv auf Augenhöhe zu den schon immer bekannten Kraftwerk. Und das wird zunehmend auch Menschen in Deutschland klar. Die Wahrnehmung ändert sich gerade also ein bisschen.

Warum jetzt?

Wahrscheinlich weil Kultur zunehmend vernetzt ist. Durch das Internet und speziell durch Blogs oder internationale Medien wie die New York Times oder den Guardian gibt es offenbar eine junge Generation, die deutlich stärker registriert, was auch im Rest der Welt ein Thema ist. Das gilt dann beispielsweise auch für eine Platte von Can oder Neu!.

Es war ja schon immer so, dass Musiker aus der ganzen Welt auf Krautrock-Bands Bezug genommen haben. Erinnern wir uns nur an den wunderbaren Auftritt von Bowie in den 90ern bei „Wetten, dass..?“. Da fragte er das verblüffte Saalpublikum, wer denn Harmonia-Fan sei und alle saßen nur sprachlos da. Dieses Phänomen hat sich in den vergangenen Jahren verstärkt. Immer mehr Musiker nennen den Krautrock als prägenden Einfluss, woraufhin wiederum immer mehr Leute anfangen zu googeln. Praktisch ist natürlich auch, dass die Musik durch YouTube und Spotify viel leichter verfügbar ist. Alben, die viele vorher nur als Gerücht kannten, können sie sich inzwischen sofort anhören. Das macht ebenfalls einen Unterschied.

Aber sie haben es damit angesprochen: Das war nicht immer so. Wie kam es denn dazu, dass der Krautrock zwischenzeitig aus dem Gedächtnis der Deutschen verschwunden ist …

… er war nie da! Die Musik taucht in einer gewissen öffentlichen Breite vielmehr jetzt zum ersten Mal richtig auf. Ich denke, zum einen ist es die alte Geschichte vom Propheten im eigenen Land. Zum anderen war der kulturelle Geschmack in Deutschland einfach so, dass man diese Musik nicht ernst nehmen wollte. Stattdessen wollte man lieber Bands hören, die nach dem Bekannten klingen wie zum Beispiel die Rattles.

Bei allem Respekt, aber Achim Reichel sagt selbst, dass die Rattles Chart-Erfolge feierten, weil sie eben wie die Stones oder die Beatles klangen. Als Reichel mit A. R. & Machines dann selbst anfing, etwas verdrehte Musik zu machen, war es vorbei mit dem Erfolg. Diese Musik überforderte einfach viele Hörer. Zudem glaube ich tatsächlich, dass die kulturelle Szene im Rest von Europa abenteuerlustiger war als in Deutschland.

Offenbar musste die Musik der „Krautrocker“ erst einen Umweg über verschiedene internationale Strömungen nehmen, um dann wieder in Deutschland anzukommen.

Definitiv. Klaus Schulze sagt, dass er in Frankreich längst gefeiert wurde, bis er in Deutschland überhaupt mal eine Platte losgeworden ist. Klar, auch hier sind irgendwann einige Leute aufmerksam geworden, weil sie mitbekamen, dass jemand wie Schulze in anderen Ländern äußerst erfolgreich war. Das hat dann schon Veränderungen angestoßen.

Tangerine Dream sind auch ein gutes Beispiel. Es wird immer von Kraftwerk gesprochen, aber auch Tangerine Dream haben Millionen von Platten verkauft. Deren Dilemma ist nur, dass ihr Katalog grotesk groß ist und gefühlt 300 Platten umfasst, wovon nur fünf oder sechs fantastisch sind – für Steven Wilson ist „Zeit“ sogar das beste Album aller Zeiten. Wie auch immer, allein mit „Phaedra“ hatten Tangerine Dream Anfang der 70er zwei oder drei Millionen Platten verkauft. Trotzdem hatten sie keinen Plattenvertrag in Deutschland. Sie waren stattdessen in England bei Virgin unter Vertrag.

Ich war völlig fassungslos, dass diese Musik von einem Deutschen stammen konnte.

Die Chancen in Deutschland auf die Musik von Tangerine Dream und Co. aufmerksam zu werden, standen zu dieser Zeit also gar nicht so gut. Sie selbst sind Jahrgang 64 und waren noch recht jung in der Hochphase des Krautrocks.

Ja und ich habe davon auch nichts bewusst erlebt. Meine Verbindung zum Krautrock kam erst relativ spät. Ich bin zwar in gewisser Weise mit dieser Musik aufgewachsen, aber nur mit einem winzigen Ausschnitt daraus. Das heißt, ich hatte einige Platten, die heute unter das Label Krautrock fallen, mir war aber nicht klar, dass das Krautrock ist. Kraftwerk waren für mich so selbstverständlich wie die Beatles. Die hat man halt einfach gehört.

Als 16-Jähriger hatte ich allerdings, wie ich auch im Vorwort meines Buchs schreibe, bei einem Preisausschreiben eine Platte von Holger Czukay gewonnen. Das war „Movies“. Ehrlich gesagt, war ich darüber erst einmal etwas enttäuscht, weil ich dachte: Das ist halt der Schrott, den sie verschenken, weil ihn sonst keiner will. Dann legte ich das Album jedoch auf und war verblüfft. Ich fand die Musik direkt toll, fand sie aber zugleich auch so ungewohnt und seltsam. Sounds wie man sie sonst nur über BFBS bei John Peel entdecken konnte. Ich war völlig fassungslos, dass diese Musik von einem Deutschen stammen konnte. Daraufhin habe ich dann begonnen, mir ähnliche Platten zusammenzusuchen.

Ein extrem wichtiger Moment für die Wiederentdeckung des Krautrocks war außerdem 1995, als Julian Cope von Teardrop Explodes den „Krautrocksampler“ veröffentlichte – das war ein Buch, keine Platte. Cope verneigt sich darin vor alten Bands wie Amon Düül, Faust, Harmonia und anderen. Das hat in England sehr viel bewegt. Musikzeitschriften, die zu der Zeit noch sehr wichtig waren, schrieben plötzlich über Krautrock-Bands, wodurch eine Generation von 16-Jährigen die Musik neu entdeckte. Auch mir wurde damals nochmal so richtig bewusst, dass es hier eine Szene von Leuten gegeben hatte, die eine herausfordernde und ungewöhnliche Musik gemacht haben. Daraufhin war ich viel auf Flohmärkten auf der Suche nach Can- oder Neu!-Alben und habe mich so nach und nach durch den Krautrock gearbeitet. Ausgangspunkt war für mich aber Holger Czukay.

Es ist interessant, dass Sie John Peel erwähnen. Eine ähnliche prägende Figur wie der legendäre Radio-DJ fehlte vermutlich in Deutschland?

Nein, so jemanden gab es auch in Deutschland. Winfried Trenkler, der heute 79-jährig in Schweden lebt und vor dem ich mich in „Future Sounds“ auch verneige. Trenkler hatte als Journalist unter anderem für „Sounds“ geschrieben und für den WDR die sehr populäre Sendung „Schwingungen“ moderiert. Dort spielte Trenkler als Erster in Deutschland auch Krautrock. Die Bands sind aus diesem Grund bis heute auch noch sehr eng mit ihm verbunden. Wenn Kraftwerk irgendwo in Skandinavien einen Auftritt haben, wird Winfried von Ralf Hütter mit ganzer Familie eingeladen. Die Musiker haben Trenkler alle nicht vergessen, dass er ihnen schon früh Sendezeit gab.

Natürlich riefen damals auch Hörer beim Sender an, die – typisch deutsche Reaktion – wissen wollten, ob ihr Radio denn kaputt sei und ob sie wirklich dafür Rundfunkgebühren zahlen müssten. Aber der WDR hat das ausgehalten und Trenkler durfte seine Sendung sehr lange machen.

Es ging um das „bei Null anfangen“. Weg von den Eltern, weg von der deutschen Geschichte, weg aber auch von allem anderen, was bekannt war.

Sie haben Ihr Buch als Oral History angelegt. Was war der Grund?

Auch wenn der Begriff furchtbar ist: Mir ging es um Authentizität. Ich mag es nicht, wenn Leute interpretieren und sagen, wie es gewesen sein könnte. Zur Vorbereitung habe ich mich auf verschiedenen Krautrock-Blogs und bei Facebook umgeschaut. Und je tiefer man dort eintaucht, auf umso mehr Unsinn stößt man: riesige Mengen an unreflektierten und unwahren Aufsätzen. Deshalb war es mir extrem wichtig, Leute zu Wort kommen zu lassen, die tatsächlich dabei waren – auch wenn ich natürlich eine subjektive Auswahl getroffen habe. Ich erzähle die Geschichte durch einen Chor von Personen, die sich erinnern.

Durch diese Methode wird auch die Diversität der Szene deutlich. Denn wer die Musik von Can, Harmonia, Guru Guru oder Kraftwerk vergleicht, stellt doch sofort sehr große Unterschiede fest. Es drängt sich zwangsläufig die Frage auf, wieso das heute alles unter das gleiche Genre fällt. Was ist aus Ihrer Sicht also das verbindende Element dieser Gruppen?

Es gibt ein ganz klares verbindendes Element, das ist aber nicht ein bestimmter Sound. Einen genau definierten Krautrock-Sound gibt es nicht. Zum Beispiel können doch zwei Bands kaum unterschiedlicher sein als Can und Tangerine Dream – und die Ersten, die das einräumen würden, wären die Mitglieder beider Bands selbst. Was diese Acts aber verbindet und was als die große Klammer im Krautrock dient, ist die innere Haltung, eine Aufbruchsstimmung.

Deswegen beginnt mein Buch auch schon in den 50er Jahren oder sogar mit Kriegserlebnissen wie im Falle von Jaki Liebezeit, auf den noch geschossen wurde, oder Hans-Joachim Roedelius, der sich noch im Luftschutzbunker verstecken musste. Es ist die Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte und der Wunsch, den Ballast der Vergangenheit abzuwerfen, der diese Künstler eint. Mit der Musik wollten sie sich einen eigenen Weg suchen. Das bedeutet natürlich auch, nicht zu klingen wie die angesagten englischen und amerikanischen Bands, für die durchaus Respekt da war. Die Krautrock-Künstler wussten aber: die Beatles und die Rolling Stones – das sind nicht wir, wir müssen etwas Neues und Eigenes machen. Dass das wiederum so ungemein einflussreichen werden sollte, ahnten sie selbstverständlich nicht.

Michael Rother hat in Interviews öfter beschrieben, dass seine Musik eine Verneinung der bluesorientierten angelsächsischen Musik war. Auf welche Tradition beziehen sich die Bands dann aber stattdessen bei ihrer „Revolution“, wie es im Untertitel ihres Buches heißt?

Das ist es: eben auf gar keine Tradition. Es ging um das „bei Null anfangen“. Weg von den Eltern, weg von der deutschen Geschichte, weg aber auch von allem anderen, was bekannt war. Die haben viel auf sozialer und gesellschaftlicher Ebene gekämpft, haben viel mit ihren Eltern, ihren Lehrern und auch der Polizei gestritten, waren auf Demos. All das haben die Künstler dann in ihre Musik eingebracht – dieser Drang, diese Sehnsucht nach etwas Eigenem. Um sagen zu können: Das sind wir jetzt, wir sind eine neue Generation.

Zum Schluss möchte ich nach ihren persönlichen Favoriten fragen: Welche Band oder welches Album aus dieser Ära bedeutet Ihnen selbst am meisten?

Sehr schwierig. Zunächst muss ich sagen, dass ich durch das Buch meine Liebe zu Can vertieft habe. Mir ist dabei nochmal bewusst geworden, was für eine sagenhaft gute Band Can ist. Auch Holger Czukay, der mir wohl der liebste Musiker in der Bewegung ist, könnte ich wohl rund um die Uhr hören.

Gleichzeitig gibt es aber ganz wunderbare, wenn auch zum Teil sehr merkwürdige Aufnahmen, die ich während der Recherche zum Buch, erst entdeckt habe. So hat mich der verstorbene Rattles-Texter Frank Dostal auf das Album „Seesselberg“ aufmerksam gemacht. Wolf Seesselberg hat mit seinem Bruder Eckert vermutlich den ersten Synthesizer Deutschlands gebaut und später eine große Karriere als Theaterarchitekt gemacht. Mit seinem Bruder zusammen hat er aber auch eine Elektronik-Platte produziert, die heute wahrscheinlich bei Mute oder Warp erscheinen würde – wirklich fantastische, seltsame Musik, wie sie mich immer wieder aufs Neue fasziniert.

Grundsätzlich gilt bei mir: Je weiter es weg vom Rock ist, desto mehr mag ich es. Und umso abstrakter und unrockiger es ist, desto mehr gefällt es mir.

Eintauchen in die Welt der „Future Sounds“: Christoph Dallachs Krautrock-Playlist mit Faust, Holger Czukay, Cluster, Popol Vuh, Embryo und vielen mehr.

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