Samba, Seele, Sehnsucht: Sankathi stellt zehn Compactos aus Brasilien vor
„Grooves raros e esquecidos com novos frescores e vida! Seltene und vergessene Grooves mit neuer Frische und neuem Leben!“ Joao Gabriel aka DJ Bill, ein brasilianischer Musiker aus Belo Horizonte, findet lobende Worte über die Platte „A Trumpet Saved My Life“, auf der Constantin Sankathi und Siggatunez erneut vier alte „Compactos“ (7-Zoll-Schallplatten) aus Brasilien neu editiert haben. Sankathi hat für uns ein paar Favoriten aus seiner Singles-Kiste gezogen …
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1. Jorge: Tudo Pode Acontecer (Soundint, 1985)
Unter Diggern ist Afrika DER Kontinent für obskure Synth-Boogie-Platten aus den 1980er-Jahren, doch auch Brasilien hat hier charmante Low-Budget-Produktionen zu bieten. Wer auf spacigen Boogie/Modern Funk mit grandioser Synthesizer-Hook steht, sollte bei Jorges wohl einziger Compacto definitiv zuschlagen.
2. Gilvan Fellip: Alo Deus (Tapecar, ca. Mitte 1970)
„Hallo Gott“ singt Gilvan Fellip in diesem gitarren – und bläserlastigen Samba-Rock-Tune (das Genre „Samba Rock“ hat in Brasilien übrigens meist wenig bis gar nichts mit Rock zu tun, wie wir ihn kennen). Dieses Loblied auf den Herrn hat bei genauerem Hinsehen allerdings eine eher weltliche Note: Der etwa Mitte der 1970er-Jahre entstandene Song ist eine Hymne auf den ABC Futebol Clube, einen der berühmtesten Fußballvereine Brasiliens. In diesem Kontext klingen selbst Stadiongesänge deep und soulful!
3. Rino Mari: Fico Doido (Cancan Discos, 1983)
Gut geklaut ist besser als gar keinen Hit. Das dachte sich wohl auch Rino Mari, der in den 80ern mit Lederweste und passender Matte eine Rock-LP sowie einige Schnulzen-Singles veröffentlicht hat. In Erinnerung bleibt jedoch dieses durchgeknallte Meisterwerk: „Ich werde verrückt“ ist eine freche Kopie des Rolling-Stones-Klassikers „Miss You“, die jeden Brazil-Dancefloor zum Beben bringt. Zum Verrücktwerden!
4. Milena: Dim Dim (Chantecler, 1973)
Beto Scala aus Sao Paulo hat als Musiker nicht nur selbst zahlreiche großartige Songs veröffentlicht, er glänzte auch als Komponist für andere Künstler. Milenas erste Single „Se É Por Falta De Adeus“ von 1973 stammt aus seiner Feder. Das Juwel findet sich auf der B-Seite: „Dim Dim“ ist ein entspannter Samba-Groover mit geradezu magischem Vibe und bis heute leider völlig unterbewertet. Als ich diese Single zum ersten Mal auf meinem Plattenteller hatte, lief sie tagelang in Endlosschleife.
5. Paulinho Soares : Elisabeth (Som Livre, 1973)
Was wäre die Música Popular Brasileira der 1970er-Jahre ohne Telenovelas? Die Serie „Uma Rosa com Amor“ wurde 1972 und 1973 ausgestrahlt, brachte es auf 221 Folgen, und wie bei den meisten Telenovelas gab es auch einen Soundtrack auf Vinyl. Highlight der Platte ist für mich der Song „Elisabeth“ von Paulinho Soares, der ebenso auf seiner ersten, jedoch sehr seltenen Single aus demselben Jahr zu finden ist: Ein melancholischer Schmachtfetzen irgendwo zwischen Samba und Bigband-Sound mit wunderbaren Bläsern, Piano-Chords und String-Parts.
Vier Singles aus dieser Liste befinden sich im Gouranga Mixtape: „Saved My Life’s Brazilian Mixtape“
6. Loalwa: Pode Chegar (Phonopress, 1978)
Als Stimme der Band „Kaoma“ wurde Loalwa Braz Vieira 1989 mit dem Millionseller „Lambada“ weltberühmt. Das erste auf Vinyl erhältliche Tondokument der 1953 in Rio De Janeiro geborenen Künstlerin stammt jedoch schon aus dem Jahr 1978: Auf dem Mini-Label Fonopress brilliert sie mit zwei außergewöhnlichen Songs, denen selbst die Low-Budget-Produktion nichts anhaben kann. „Pode Chegar“ wechselt virtuos zwischen schnellem Samba und rhythmischen Bläser-Breaks und strotzt geradezu vor Energie. Loalwa Braz fiel leider Anfang 2017 in ihrer Heimatstadt einem Raubmord zum Opfer.
7. Elizângela: Vou Te Amar Sempre Assim
In den 1970er-Jahren kam es in Mode, dass sich Schauspielerinnen der brasilianischen Seifenopern als Sängerinnen versuchten. 1979 hatte Elizângela do Amaral Vergueiro mit „Pertinho de você“ in Brasilien einen lupenreinen Disco Hit. Ihren stärksten Auftritt legte sie jedoch 1981 auf ihrer letzten Single hin: „Vou Te Amar Sempre Assim“ ist vom Sound her stark Boogie-lastig und nahezu perfekt produziert – kein Wunder, steckt hinter dieser eher unbekannten Produktion die Brazil-Boogie-Legende Lincoln Olivetti. Viel erstaunlicher ist jedoch, wer zu diesem Song den Text geschrieben hat: Der Schriftsteller und Bestsellerautor Paulo Coelho („Der Alchimist“)!
8. Beira Banda De Lagoa: Doce Demais (Private Press, 1983)
Anfang der 1980er-Jahre formierten sich im Nordosten Brasiliens in Maceió, der Hauptstadt des kleinen Bundesstaates Alagoas, sechs junge Musiker, um den MPB-Sound mit Rock und traditionellen Klängen ihrer Heimat zu verbinden. Beira Banda De Lagoa brachte es zwar nur auf eine Single – die schon ohne Farbcover schwer zu bekommen ist und mit Farbcover so gut wie gar nicht – aber die hat es in sich: Der Song „Doce Demais“ ist ein unfassbar cooler Synth-Boogie-Tune irgendwo zwischen Pop, New Wave und Reggae mit einem Hauch von Acid (!), der aus mir völlig unverständlichen Gründen immer noch komplett unter dem Radar fliegt. Ob es daran liegt, dass es zu der Scheibe nicht mal einen Eintrag auf Discogs gibt?
9. Sirino e Fagner: Copa Luz (RGE Discos, 1971)
In den späten 1960er-Jahren waren viele Musiker der Tropicalia-Bewegung stark von Psychedelic Rock und Folk amerikanischer Prägung beeinflusst. Auf der ersten Single des Songwriters Raimundo Fagner (hier als Duo mit dem unbekannt gebliebenen Sirino) ist dies deutlich zu hören. „Copa Luz“ ist eine traumhafte Hommage auf die Copacabana. Ein melancholischer Song, der danach klingt, als ob die beiden zu der Zeit gerne Simon & Garfunkel gehört hätten: Lässige Accoustic-Guitar-Riffs paaren sich mit wehmütigen Strings und emotionalen Vocals, im Hintergrund runden traditionelle Ciucas das Meisterwerk ab. Die original Single ist sehr selten, doch zum Glück wurde der Song digitalisiert und ist bei den üblichen Streaming-Diensten erhältlich. Unbedingt auch die wesentlich psychedelischere A-Seite checken!
10. Pery Ribeiro: Abre Alas (Som Livre 1974)
Es war in Brasilien üblich, dass erfolgreiche Songs immer wieder auch offiziell gecovert wurden. Der brasilianische Komponist, Pianist und Sänger Ivan Lins gehört zu den ganz großen Legenden des MPB. Sein Album „Modo Livre“ von 1974 gilt als Meilenstein. Darauf enthalten ist der Song „Abre Alas“, zu dem Vitor Martins, sein Partner in Crime, den Text geschrieben hat. Unsterbliche Piano-Chords und ein Refrain für die Ewigkeit fusionierten hier zu einer packenden Hymne, die vielen Brasilianern in dunklen Zeiten Mut machte. Von „Abres Alas“ gibt es mehrere gute Cover-Versionen, doch die von Pery Ribeiro ist die beste: Das Samba- und Bossa-Urgestein war von dem Song scheinbar derart begeistert, dass er seiner im selben Jahr wie „Modo Livre“ erschienenen, damals schon 13. Platte, komplett diesen Titel gab. Perys Version ist weniger jazzig, weniger subtil, dafür kommt sie eine Spur direkter und trifft mit ihrem leicht kitschigen Pathos dennoch ins Schwarze.